Während der deutsche Fahrer sein Auto längst in der Garage stehen lässt, fängt der russische Fahrer langsam darüber nachzudenken, die normale Geschwindigkeit einzuhalten. Es macht Spaß!
Gestern habe ich neben dem Bahnhofseingang alte Männer gesehen, die mit russischer Volks- und Militärmusik ihren Zubrot verdienen. Es waren Profimusiker der alten Schule. Das war nicht zu überhören. Meine Beine haben sich von alleine langsamer bewegt, als ich an ihnen vorbei gegangen bin. Und als ich den Metroeingang mit dem Bahnhofseingang verwechselt habe und die Treppe hoch gestiegen bin an der die Musiker gesessen haben, hat sich mir eine unvergessliche Szene präsentiert. Eine waschechte minikleine zerbrechliche russische Oma mit dem echten russischen Tuch auf dem Kopf hat sich langsam zu der Musik gedreht. Sie konnte nicht einmal mehr sicher laufen, aber das hat sie noch geschafft. So ein Bild bekommt man nur ein Mal im Leben zu sehen. Ich hätte heulen können, dass ich zu dämlich gewesen bin meine Kamera rauszuholen und ein kleines Video aufzunehmen. Statt dessen bekommt ihr den Wellensittich Karluscha zu sehen, der auf Russisch Gedichte rezitiert und dem ich versuche verzweifelt...
In Russland laufen Werbespots auch dann weiter, wenn man das Heim bereits verlassen hat – und zwar in 4-D. Das geschieht vorwiegend in den Regional- und Kurzstreckenzügen. Eines Tages sitze ich in einem der Züge, der mich von Moskau nach Sergeev Pasad bringen soll. Dort gibt es ein sehenswertes Kloster, gegründet von Sergej Radoneschskij. Also versuche ich in mich zu gehen und mich auf eine eineinhalbstündige Reise und deren tieferen Sinn einzustimmen. Kaum startet der Zug werden meine tiefsinnigen Gedanken grob unterbrochen. Im Wagon erscheint eine Frau mit großen Taschen und erläutert knapp und laut die einmaligen Vorzüge von Staublumpen und anderen Produkten für die Sauberkeit. Sie betont immer wieder, dass diese aus deutscher Herstellung stammen und ich vermute, sie meint damit unverwüstlich und lebenslang haltbar. Schade, dass damit nur die deutschen Lumpen und nicht die deutschen Männer gemeint sind. Anschließend sagt sie, dass die Interessenten sich an sie wenden können und geht...
Drei Fragen wollte ich in diesen drei Monaten beantwortet haben. Drei Fragen, die mich nicht nur seit einer Ewigkeit beschäftigen, sondern auch mein Tun seit einer Ewigkeit beeinträchtigen. Drei Fragen, die Alles oder Nichts bedeuten können, denn keiner hat mir versprochen, dass ich die Antworten in diesen drei Monaten finde. Doch ich musste nicht suchen. Sie lagen zum Abholen bereit. Zum Ersten wollte ich wissen, ob mein Wunsch für einige Jahre nach Russland zu gehen, eine »Mirage« aus unerfüllten Jugendräumen oder eine reale Chance war. Weder noch, würde ich heute sagen. Vielleicht wäre es eine reale Chance gewesen, wenn es damals in Russland keine dramatische Wende gegeben hätte, die das Volk in eine Situation zwang, auf die es nicht vorbereitet war. Ich mag Russland und die Menschen dort nach wie vor. Doch es hat für mich wenig mit dem Land zu tun, das ich '90 verlassen musste. Erzwungener Kapitalismus ohne sozialen Aspekt macht mir Angst, die ich nur für kurze Zeit...
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